Mein Rückblick

Es war einmal vor langer Zeit, als ich noch ein Baby war...


Ausgerechnet Madagaskar

Als Mama merkte, dass sie schwanger war, saß sie gerade ohne Papa auf der kleinen Insel Nosy Mangabe, mitten im Indischen Ozean und filmte für ihre Madagaskar-Dokumentation. Papa saß derweil nichtsahnend zu Hause. Da in den entlegenen Gebieten Madagaskars die Telefonverbindung schlecht ist, dauerte es auch noch eine Weile, bis ihn die frohe Botschaft per SMS aus den Socken kippen ließ. Papa und Mama hatten nach einer Fehlgeburt so lange auf mich gewartet. Die Freude über meine Anwesenheit war deshalb groß. Genauso groß wie ihre Angst, ich könnte sie ebenfalls wieder verlassen. Mama kam es vor wie ein Deja-Vu mit schlechten Vorzeichen, denn als sie beim ersten Mal merkte, dass sie schwanger war, saß sie ausgerechnet auch gerade auf Madagaskar. Doch wir kämpften uns gemeinsam durch die steile Bergnebelwaldregion von Marojejy, um die Silky Sifakas - die seltensten Halbaffen unserer Erde - zu filmen und manch anderes Abenteuer zu bestehen. Mama hatte so viel Angst, mich nicht heil nach Hause zu bekommen. Aber sie hat es geschafft!


Pränataldiagnostik - Segen oder Fluch?

Mama hatte die 35 schon leicht überschritten, als sie mit mir schwanger war. Deshalb legte man ihr das sogenannte Ersttrimesterscreening ans Herz. Hierbei werden per Ultraschall die Nackenfalte und das Nasenbein in der 12. SSW vermessen und 2 Blutwerte aus dem mütterlichen Blut (freies ß-HCG und PAPP-A) bestimmt. Mama dachte sich: "Warum nicht die modernen Möglichkeiten der Medizin ausschöpfen, um zu sehen, dass alles in bester Ordnung ist?"  Sie merkte gar nicht, dass sie dabei einen ziemlichen Denkfehler im System hatte. Denn was, wenn sich dabei herausstellte, dass eben nicht alles in bester Ordnung ist? Es liegt wohl in der Natur des Menschen (oder zumindest in der Natur von Mama) für sich selbst immer vom Guten auszugehen. Man denkt positiv und fällt dann umso tiefer, wenn Wolken am Horizont aufziehen. In Mamas Fall waren es ziemlich finstere Gewitterwolken: Der Ulltraschallbefund meiner Nackenfalte und des Nasenbeins war gänzlich unauffällig, die Wahrscheinichkeit für Trisomie 21 lag bei 1:823. Doch die Ergebnisse der Blutuntersuchung waren auffällig, so dass hier die Wahrscheinlichkeit bei 1:37 lag. Beide Ergebnisse zusammengenommen ergaben letztlich die Wahrscheinlichkeit von 1:186, dass ich mit Down Syndrom geboren werde. Mama und Papa wurde zu einer Fruchtwasseruntersuchung geraten. Da hatte Mama mich endlich über die kritische Zeit gebracht und nun sollte sie mich einem Risiko aussetzen?

 

"Ich werde die Fruchtwasseruntersuchung nicht machen lassen und das Leben des Kindes gefährden!" sage ich kämpferisch. "Wenn eine Abtreibung aufgrund eines Trisomie21-Befundes für Sie nicht in Frage kommt, wäre eine Fruchtwasseruntersuchung ein unnötiges Risiko - außer dass Sie sich eher auf den Umstand einstellen könnten!" antwortet der Doc ruhig. "Ich würde dieses Kind niemals abtreiben, nur weil es vielleicht nicht zu meinem bisherigen Lebensplan passt!" sage ich bestimmt und lauere auf Gegenwehr. Kein Versuch, mir ins Gewissen zu reden, mich umzustimmen oder leise Kritik an meiner Entscheidung zu üben? "Ich finde, Sie machen alles richtig!" sagt der Doc leise. Ich würde ihn jetzt gerne umarmen. Nicht, weil er genau das sagt, was ich hören will, sondern weil er genau das meint, was er sagt. Für seine Ehrlichkeit und für seine Menschlichkeit. Und dafür, dass sich unsere Wege gekreuzt haben. (Auszug aus dem Buch "Anders als normal", an dem Mama gerade schreibt, um ihre Erlebnisse zu verarbeiten)

 

Was für ein Glück für mich, dass Mama diesen Gynäkologen gefunden hatte. In solch einem schwierigen Lebensmoment in seiner Entscheidung bestärkt zu werden, lässt sich mit Gold nicht aufwiegen. Ich wünschte, alle werdenden Eltern eines Kindes mit Verdacht auf Down Syndrom hätten solch einen mutigen Arzt zur Seite, der ihnen nicht aus Angst vor Regressansprüchen ihr Bauchgefühl ausredet! Ja, wir haben das gewisse E-XXX21-tra und keiner sagt, dass ein Leben mit uns immer leicht ist  - aber darf uns dieser kleine Unterschied das Recht aufs Leben kosten?


Diagnose Down Syndrom

In den darauf folgenden Schwangerschaftsmonaten entwickelte ich mich prächtig. Im Ultraschall zeigten sich keine Auffälligkeiten an Herz, Darm und Nieren. Ich war perfektes Mittelmaß! So mittelmäßig, dass der Verdacht auf Down Syndrom in weite Ferne rutschte!

Nach meiner Geburt durchlief ich die U1 als kerngesundes 4 kg Baby mit einer stattlichen Größe von 55 cm. Doch einige Stunden später begannen die Probleme. Ich bekam schlecht Luft und musste ständig erbrechen. Schließlich brachte mich der Kinderarzt in der selben Nacht noch auf die Intensivstation zur Überwachung. Bei meiner eingehenden Untersuchung keimte in ihm der Verdacht. Am nächsten Morgen hatte er die schwierige Aufgabe, meine Eltern von seinem Verdacht in Kenntnis zu setzen und um ihre Einwilligung zum Gentest zu bitten. Ein Schnelltest lieferte dann innerhalb von 3 Tagen ein vorläufiges Ergebnis, das endgültige Resultat dauerte eine Woche. Meine Eltern hatten in dieser Zeit so viele andere Sorgen mit mir, dass die Diagnose Down Syndrom sie nicht wirklich erschüttern konnte.

 

 

Da war an erster Stelle die Tatsache, dass meine Sauerstoffsättigung ständig stark abfiel und der Überwachungsmonitor Alarm schlug. Ich lief dann blau an und bekam eine Atemmaske in die Nase gesteckt. Mama sagt heute noch, dass sie Gänsehaut und Herzrasen bekommt, wenn es irgendwo anfängt zu piepen. Es erinnert sie dann immer an den schrecklichen Alarm.

Dann war da noch mein Leukozyten-Problem. Meine Blutausstriche zeigten viele unreife Zellen und stark erhöhte Leukozyten, was die Ärzte so sehr beunruhigte, dass sie die Proben sogar zu einem Spezial-Onkologen nach Hannover schickten. Seitdem muss mein Blut in regelmäßigen Abständen auf Leukämie überprüft werden und meine Mama gerät jedes Mal in Panik, wenn ich einmal etwas müder bin als sonst.

Durch meine Trinkschwäche nahm ich im Krankenhaus stark ab und die Ärzte weigerten sich, mich zu entlassen, bevor ich nicht wenigstens mein Geburtsgewicht wieder erreicht hatte. Mama war verzweifelt. Sie tat alles, damit ich von ihrer Brust trinken konnte, aber meist schlief ich nach ein paar Schlucken ein und sie musste die Milch für mich abpumpen.

Irgendwann stand dann auch noch der Verdacht auf Mukoviszidose auf dem Plan. Mama und Papa hatten schon langsam Angst durch die Krankenhausgänge zu gehen und einem Arzt zu begegnen, der neue Hiobsbotschaften für sie bereit hielt. Auf das Ergebnis des Mukoviszidose-Tests mussten sie 3 Wochen warten. Dann herrschte große Erleichterung. Eine Sorge weniger.

 

Ach ja, nicht zu vergessen, dass ich hochkant durch den Hörtest gerasselt bin und meine Eltern lange Zeit nicht wussten, ob oder wie viel ich hören kann!

 

Heute sagt Mama, dass es damals zwar wirklich schlimme und bange Wochen für sie waren, aber auf diese schlechte Zeiten folgten die besten Zeiten ihres Lebens und ließen sie Angst und Sorge vergessen.


Anders als normal

Mama und Papa waren ziemlich traurig darüber, dass nach meiner Geburt vor allem in einer Beziehung alles anders als normal war:

Statt guter Wünsche und zahlreicher Besuche, um den Neuan-

kömmling gebührend zu bewundern, herrschte Funkstille. Viele Freunde wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Konnte man zu so einem Kind tatsächlich gratulieren? Es fehlten einfach die Worte. Mama sagt, sie kann das verstehen. Ihr wäre es vermutlich nicht anders gegangen, wenn Freunde ein behindertes Kind bekommen hätten. Doch jetzt, wo sie mich haben, wissen sie, dass Liebe und Glück keine Chromosomen zählt. Ich bin ich - und das ist gut und richtig so! Viele Freunde und Bekannte haben wir aus den Augen verloren, seit ich geboren bin. Sie wollten mir vielleicht nicht die Chance geben,  mich richtig kennen zu lernen.  Dafür haben wir aber eine ganze Menge neuer Freunde gefunden, die mich dafür lieben, dass ich ich bin!


Mein erstes Weihnachten

Mein erstes Weihnachtsfest verbrachte ich in dem kleinen Plexiglasbettchen auf der Intensivstation und Mama weinte daheim bittere Tränen, weil sie mich so vermisste. Kurz vor Silvester hatte ich mein Geburtsgewicht endlich wieder und dank einer Coffeinbehandlung wurde auch meine Sauerstoffsättigung so gut, dass ich mit Atem- und Herzmonitor das Krankenhaus verlassen durfte. Vorher mussten meine Eltern noch einen Erste Hilfe Kurs für Wiederbelebung besuchen. Die Ärzte sagten, sie seien "Naturtalente", so gut wie sie die Beatmung an dem Plastikbaby hinbekommen. Mama hatte große Zweifel und riesige Panik, dass sie das im Ernstfall nicht ganz so gut machen würde. Was, wenn statt des Plastikbabys ich vor ihr läge und nicht mehr atmete?

 

Zum Glück musste sie den Ernstfall nie proben. Nach einem Jahr und 2 Schlaflaboraufenthalten im Krankenhaus war ich den Monitor los und wir hatten wieder ein Problem weniger!


Heimat ist da, wo dein Herz wohnt

An dem Tag, als ich zum ersten Mal über die Schwelle in unser Haus getragen wurde, kehrte für mich Frieden ein. Ich verschlief das bombastische Dorffeuerwerk an Silvester. Ich schlief sogar noch bis zum nächsten Mittag ohne Aufzuwachen. Sehr zum Leidwesen von Mama, die dringend ihre Milch loswerden wollte, bevor sie platzte.

Alle machten sich furchtbare Sorgen, warum ich so lange schlief und keinen Hunger hatte. Ich war einfach so froh, der Hektik und den piepsenden Maschinen auf der Intensivstation entronnen zu sein, dass ich mir diese kleine Auszeit gönnte.

Ich bin eben eher der gemütliiche Typ. Ich brauche nachts meinen ungestörten Schönheitsschlaf. Da kann neben mir ein Unwetter toben oder Erdbeben wüten - ich schlafe immer tief und fest.

Auch meine Eltern konnten bald wieder gut und ruhig schlafen, denn sie fühlten sich durch die Betreuung des Bunten Kreises bestens in all ihren anfänglichen Sorgen und Nöten begleitet. Die Krankenschwester Daniela schaute in meinen ersten Lebensmonaten regelmäßig bei mir vorbei und gab Mama viele wertvolle Tipps, damit ich gut gedeihen konnte. Mama durfte jederzeit einen SOS-Anruf absetzen und Daniela war zur Stelle, wenn es ein Problem gab. Sie begleitete mich sogar mehrere Male zum Hörtest . Durch den Bera-Test rasselte ich ganze 6 Mal, weil mein Gehörgang so eng war. Der Test konnte nur durchgeführt werden, während ich schlief und so fuhr meine Mama jedes Mal mit quietschenden Reifen in der Klinik vor, doch ich wachte spätestens im Untersuchungszimmer auf, wenn es ans Eingemachte ging. Das war schon nervenaufreibend! Irgendwann haben sie mich dann aber doch überlistet und ich habe den Hörtest endlich bestanden! An diesem Abend gönnte sich meine Mama ein ordentliches Bier aus ihrer fränkischen Heimat auf mein Wohl! Hatte ich schon erwähnt, dass ich das Produkt einer Mischehe aus einer Oberfränkin und einem Oberbayern bin? Auch wenn Franken durchaus zu Bayern zählt, ist es manchmal eine ziemliche Bürde für meine Mama als "Zugroaste" im oberbayerischen Exil zu leben. Aber was tut man nicht alles der Liebe wegen? Mama sagt immer, das ist ihr kleiner Beitrag zur Völkerverständigung ;-)