Anders als normal - Geschichten aus dem Leben

Seit ich auf der Welt bin, kremple ich das Leben von Mama und Papa ganz schön um. Mama fragt sich manchmal, was sie vor meiner Geburt mit all ihrer vielen Zeit überhaupt den ganzen Tag angefangen hat! Hier schildert Mama, wie das Leben mit mir manchmal so spielt. Es sind Geschichten zum Schmunzeln und Mitlachen, denn wo ich mitmische, ist meistens eine ordentliche Portion Chaos dabei.


Der Weltenzerstörer

Es gibt Momente in meinem Leben, in denen würde ich mir für meinen Sohn eine Sackkarre wünschen, wo er hübsch verschnürt als kleines Päckchen a la Hannibal Lecter sicher aufbewahrt ist und keinen Schaden anrichten kann, während ich nur kurz etwas ohne ihn erledige. Besonders deutlich habe ich dieses Bild bei meinem Toilettengang vor Augen, bei dem ich etwas mehr Privatsphäre durchaus zu schätzen wüsste. Während Vater in aller Seelenruhe mit seiner Lektüre auf dem stillen Örtchen verschwindet, weil ja Mutter noch zum Aufpassen da ist, bin ich mit meinen Bedürfnissen stets allein auf weiter Flur. Sie glauben gar nicht, wie effektiv man einen Toilettengang gestalten kann, wenn Selbigem ein ungestümer 4-Jähriger beiwohnt, der erfolglos versucht, seinen Klositzverkleinerer unter deinem Hintern zu platzieren und ihn dir dabei ständig gegen den Oberschenkel rammt. Zeitgleich wird die Toilettenspülung in Schleife gedrückt oder mit der Klobürste vor dem Gesicht herumgewedelt, um dem Unmutsgefühl plastisch Ausdruck zu verleihen: "Bo auch Klo!"

 

Mein Schatten folgt mir überall hin - nicht weil er so an mir hängt, sondern weil es sonst zu regelmäßigen Katastrophen in unserem Haus käme. Ich bin keine überbesorgte Satellitenmutter, aber es ist ein ehernes Gesetz zu meinem eigenen Wohl: Ich kann Flo nicht - und sei es nur für 5 Minuten - aus den Augen lassen. Ein Tornado braucht ja auch nur eine halbe Minute, um ein ganzes Dorf zu verwüsten!

 

Und doch gibt es diese schwachen Momente, in denen ich mit naiv-seligem Lächeln aus dem Kinderzimmer schleiche und dort ein tief im Spiel versunkenes Kind zurücklasse, um schnell Zähne zu putzen oder mich anzuziehen. Die Badtür bleibt natürlich offen und ich lausche ständig angestrengt nach draußen, ob ein Poltern oder Krachen den herannahenden Hurrican ankündigt.

 

So auch an diesem Sonntagmorgen. Wir sind um 11 Uhr mit meiner Freundin Isa und ihrer Tochter Helena auf dem Spielplatz verabredet und sind spät dran. Seitdem Flo vor 4 Stunden aufgestanden ist, habe ich schon 5 wilde Verfolgungsjagden hinter mir und langsam geht mir die Puste aus:

Nachdem Flo vor den Osterferien fast einen Darmverschluss wegen seiner angeborenen Darmträgheit bekommen hat, zog der Kinderarzt die Reißleine und verschrieb das Medikament Movicol, welches Flüssigkeit im Darm bindet und dadurch Verstopfung verhindert. Der Erfolg kam schneller und durchschlagender als erwartet!

Seitdem besteht mein Alltag vorrangig aus dem Einfangen eines halbnackten Kindes, dass sich "delper" ausgezogen hat, um seine Windeln "delper" zu wechseln. Dann folgt die verzweifelte Endreinigung eines zappelnden, wild herumrotierenden Derwischs, der jede sich ihm bietende Gelegenheit zur Flucht schamlos nutzt, um nicht wieder angezogen zu werden. Gummimann und Körperbrett, strampeln, treten, Beine zusammenkneifen, mit dem Fuß wild herumzappeln - die Möglichkeiten meines Sohnes, Unterwäsche, Strumpfhose und Klamotten abzuwehren, sind unerschöpflich. Kaum angezogen, grüßt das Murmeltier und das Spiel startet von vorne.

 

Doch jetzt sitzt mein fertig angezogenes Kind endlich in seinen Matschhosen startklar für den Spielplatz zwischen seinen Legomännchen im Kinderzimmer und es ist Frieden eingekehrt. Es schweigen die Därme. Ich schleiche aus dem Zimmer. Die nächsten 5 Minuten gehören mir. Mir ganz allein. Während ich im Bad versuche, mit frischgewaschenen Jeans, Deo und Haarbürste aus mir ein gesellschaftsfähiges Mitglied der Familie zu machen, lausche ich immer wieder angestrengt durch die weit geöffnete Badezimmertür. Es herrscht absolute Stille. Es ist mir noch nie passiert, dass ich mich heimlich davonschleichen konnte und Flo nicht sofort auf der Matte stand, um im Bad meinen Personal Coach zu spielen! Mein Bauchgefühl liegt irgendwo zwischen wohliger Zufriedenheit, dass ich mir endlich wieder einmal ganz allein gehöre und der ängstlichen Unsicherheit, welche Szenen sich derweil im Kinderzimmer abspielen mögen. So schlimm kann es ja wohl nicht sein - alle Gefahrenquellen hatte ich in monatelangem "Learning by Happening"-Prozess ausgeschaltet?! Es konnte ihm nichts passieren. Es konnte höchstens Flo passieren!

 

Ich lächle in den Spiegel. Diese Creme ist ein Wunderwerk, sie hat sogar die tiefen Sorgenfalten, die mich dieser Morgen schon gekostet hat, ausradiert. Bereit für den Spielplatz! "And I think to myself what a wonderful w..." Das Lied erstirbt auf meinen Lippen noch bevor ich die Kinderzimmertür erreicht habe. Jetzt kann auch die Faltencreme nichts mehr ausrichten - ich altere im Zeitraffer! "Bo auch Klo delper!" ruft mir Flo entzückt entgegen. Er sitzt nackt auf dem Kopfkissen seines Bettes und schwingt seinen Fuß, an dem ein braunverschmierter Windelslip baumelt, wie eine Siegesfahne hin und her. Mit dem anderen Fuß ist er offensichtlich bei seinem Auskleideversuch direkt in die Windel getreten, die ganze Fußsohle ist mit klebrig stinkendem Brei überzogen.

 

"Beppo, Hilfe, komm schnell!" rufe ich verzweifelt nach Beppo, der ahnungslos im Büro im Keller sitzt und lehne mich zitternd an den Türrahmen. Während ich im Kopf die einzelnen Schritte meines Krisenplanes erwäge, springt Flo auf und läuft mir freudestrahlend entgegen. Die Windel landet sunnyside down auf seinem Kuschelkissen. Sein Fußabdruck stempelt das Bettlaken, die Bettdecke und den flauschigen Kinderteppich mit der Weltkarte vor seinem Bett. "Oh dau mal Mama, Hotteplott Spur!" Fasziniert betrachtet Flo seine Hinterlassenschaften und ist jetzt ganz in der Welt des Räuber Hotzenplotz versunken. In seiner Fantasie hat der Räuber gerade die Kiste mit Gold in seine Höhle gezerrt und dabei festgestellt, dass er auf einen Trick von Kasperl und Sepperl hereingefallen ist und nun eine Sandspur zu seinem Versteck führt. In Räuber Hotzenplotz-Manier stampft mein nacktes Kind breitbeinig durch das Kinderzimmer auf mich zu und schimpft mit geballten Fäusten theatralisch vor sich hin. "Hotteplott, dite dauer!" ("Hotzenplotz ist richtig sauer!"). Ich weiß, wenn ich diese Geschichte in meiner Mütterrunde zum besten gebe, lachen alle herzlich und dann lache ich mit.

 

Doch jetzt ist mir zum Heulen. Ich bin saft- und kraftlos. Ich versuche, nach Flo zu grapschen und zu verhindern, dass er auch noch den Weg ins Bad mit seinen Dunghaufen pflastert. Aber er ist im Hotzenplotz-Modus. In seiner Welt hat er gerade das perfekte Bühnenbild für seine Theateraufführung geschaffen! Er schätzt es gar nicht, auf den Boden der Realität zurückgebracht zu werden. "Beppo, Hilfe!" rufe ich noch einmal schwach nach meiner besseren Hälfte. Zu Zweit würden wir ihn überrumpeln können, in die Wanne verfrachten und abbrausen. Allein hatte ich keine Chance.

 

"Was ist denn hier schon wieder los?" fragt Beppo alarmiert. Hotteplott-Flo und ich ringen mittlerweile vor der Kinderzimmertür und meine frischgewaschene Jeans gehört schon längst der Vergangenheit an - die Spuren unseres Kampfes sind unübersehbar! Ich deute wortlos auf das Kinderzimmer und Beppo steckt nichtsahnend den Kopf durch die Tür. "Oh, da hat aber jemand ganze Arbeit geleistet!" sagt er. "Ist das auf dem flauschigen Weltkartenteppich eine neu entdeckte Insel oder nur die Spur des Kolumbus?" fragt er mit mühsam unterdrücktem Lachen. Gemeinsam verfrachten wir unseren Hotteplott in die Wanne, schäumen und brausen. Dann ziehe ich das Bett ab und schrubbe die exotische Insel vom Teppich. Ich suche Wechselklamotten für Flo und mich und ziehe ihn zum 6. Mal und mich zum 2. Mal an diesem Tag neu an.

 

"Hotteplott Spur weg!" sagt Flo enttäuscht und begutachtet argwöhnisch mein Putzwerk. "Mit vereinten Kräften ging es ja besser als gedacht!" sagt Beppo munter und verstrubbelt Flo stolz das Haar. Mir schnürt es die Kehle zu, denn bald schon bin ich wieder allein und Papa ist weit weg in Afrika. Ich schaue auf die Uhr und bin wie sooft, seit Flo in mein Leben getreten ist, überrascht: "Liebe Isa, verspäten uns um ein Viertelstündchen!" schreibe ich in meine SMS. Zeit ist eben relativ.


Freaky Friday

Ein gelungener Start in den Tag

Kennen Sie diese Tage, an denen einfach nichts gelingt und alles schon 2 Sekunden nach dem Aufwachen in absolute Schieflage gerät? Du stolperst über einen kleinen Stein am Wegesrand und trittst dabei eine Kettenreaktion los. Das Chaos breitet sich im Dominoeffekt aus und es gibt keine Rettung mehr.

"Wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her!" höre ich in diesen Momenten der Hoffnungslosigkeit meine Oma säuseln, die mich zu ihren Lebzeiten stets mit dem passenden weisen Rat zur unpassendsten Zeit versorgte. "Ja, und der Letzte macht das Licht aus und versengt sich beim Versuch, besagtes Lichtlein auszupusten, die Haare und setzt das Haus in Brand. Und dann weiß ich, es gibt auf dieser Welt immer jemanden, den es noch härter erwischt hat als mich!" ergänze ich im Stillen. Jetzt bin ich bereit, diesem freakigen Tag die Stirn zu bieten, denn ich weiß: Ich bin nicht allein!

 

Falls Sie gerade auf bestem Wege sind, einen Fehlstart hinzulegen, dann kommt hier die "Lesen Sie diese Es-geht auch-schlimmer-Geschichte und Sie werden sich besser fühlen"-Weisheit von mir für Sie! Viel Spaß beim Lesen!

Freitag, 7.00 Uhr: Burung, burrung, burugugu bung. Die Bongotrommeln werden lauter, ihr Rhythmus läuft hektisch zu Höchstform auf: Chakkadong,chakka, chakka cakkadong, burrung, buruggugu bung. Ich hasse diesen Klingelton, ich hasse diesen Wecker, ich hasse diesen Morgen. In den Trommelwirbel mischt sich ein völlig a-melodischer Singsang: AH-jeijeijei, uahhhh, auauauau. Chakaburungbumbum, dadong, dadong. Das Intermezzo strebt seinem Höhepunkt entgegen. Ah-jeijeijei, auawawa!

Ein afrikanischer Schamane, der durch den Trommelwirbel in einen Trancezustand versetzt wurde und aus dem nun die Ahnen sprechen? Mit nichten! Die jämmerlichen Walgesänge kommen aus dem Nebenzimmer. Das Gejodel begleitet meinen Halbschlaf seit 4 Uhr morgens und kommt aus dem Babyfon! Mein Sohn intoniert vor allem im Morgengrauen gerne und mit absoluter Hingabe die Tonleiter rauf und runter. Bestimmt wird er eines Tages ein gefragter Opernstar - doch bis jetzt hat er den Zenit seiner Schaffenskraft noch nicht erreicht. Jeden Morgen befinde ich mich im mütterlichen Zwiespalt: Mit schlechtem Gewissen (Söhnchen könnte ja etwas brauchen) dem Babyfon den Saft abdrehen und dann ungestört weiter schlummern? ODER begleitet von grausigem Gesang im erholungslosen Halbschlaf dämmern, um gleich mitzubekommen, falls Söhnchen etwas braucht? Da ich die Supermami bin, entscheide ich mich natürlich für Letzteres!

Ich mache übellaunig sowohl dem Wecker als auch dem Babyfon den Garaus und wanke in die Küche, wo ich trüben Blickes die Vollmilch aus dem Kühlschrank krame. Während selbige auf dem Ofen köchelt, befreie ich schnell noch eine Flasche nebst Sauger von den gammeligen Milchresten des Vortages, werfe den Wasserkocher an, positioniere einen Kaffeefilter auf meiner geliebten Thermoskanne und bestücke ihn mit reichlich Kaffeepulver. Das dauert länger als gedacht. Hinter mir zischt es verdächtig. Wie bei einem Vulkanausbruch schießt die Milchlava über den Topfrand und fließt in sämtliche schwer zugängliche Ritzen unseres Gaskochfeldes. Hektisch beginne ich den Milchsee vom Ceran zu wischen, bevor er unter die Drehknöpfe sickert und vergesse dabei die gußeiserne Halterung für den Kochtopf, die gerade noch in der Gasflamme glühte. Jetzt wäre der ideale Zeitpunkt, ein Verbrechen zu begehen, denn anhand meiner Fingerabdrücke könnte ich bestimmt nicht überführt werden: Die feinen Hautlinien meines Daumens und Zeigefingers wurden zu einer ebenen Fläche verschmolzen! Ich gieße das, was von der Milch noch übrig ist, in die Flasche und mixe kalte Milch dazu. Fühlt sich gut an, die verschmurkelten Finger an dem kühlen Tetrapack zu betäuben. Dann grabsche ich meine Jumbotasse und schöpfe mir großzügig meinen Morgenkaffee ein. Mag sein, dass zu viel Kaffee schädlich ist, aber für mich wäre es in jedem Falle schädlicher, keinen zu haben.

 

"Guten Morgen!" rufe ich betont spritzig in das halbdunkle Kinderzimmer und bahne mir meinen Weg durch - autsch, der Duplostein hat sich gerade in meine nackte Ferse gegraben - Bauklötze zum Gitterbettchen. "AH jeijeijeijeijei, aua aua!" tönt es aus den Kissen. Mein Sohn verharrt in muslimischer Gebetshaltung - die Stirn ruht auf der Matratze, den Hintern reckt er mir entgegen. "Biard! Mi!" murmelt er mit letzter Kraft in die Kissen. Übersetzt bedeutet das so viel wie "Pferd! Milch! Und zwar genau in der Reihenfolge und etwas pronto!" Ich hebe ihn aus dem Bett und er sinkt schlaff an meine Schulter. Er lässt sich hängen wie ein nasser Sack und wiegt gefühlte 80 kg. Ich wanke erneut durch die Schneise aus Bauklötzen und kicke eines von diesen vermaledeiten Formteilen beseite, die Sohnemann eigentlich durch den Schablonendeckel in den Eimer sortieren sollte, um sein räumliches Vorstellungsvermögen zu schulen. Es lebe die Frühförderung! Ich erreiche die Kinderzimmertür. Tageslicht streift das rechte Auge meines Kindes. Er zuckt wie ein Vampir, der gerade sein ewiges Leben im ersten Sonnenstrahl des Tages aushaucht. "Mammaha!" ertönt es missmutig. Unwillig zerrt er an dem Ausschnitt meines Schlafshirts. Der morsche Saum knirscht verdächtig - danke fürs Ausleiern! Flo hat jetzt wenigstens genug Stoff zur Verfügung, um sein Augenlicht vor der Grelle des Morgens zu schützen! Bei der Gelegenheit wischt er auch gleich den fluoreszierend-grünen Nasenschleim an meinem weißen Oberteil ab. Mama ist so praktisch!

Ich lasse Flo in mein Bett plumpsen und kuschele mich daneben. "Neeeeein!" kreischt er und wehrt mit beiden Händen meine Kuschelattacke ab. "BIARD! MI!!!" sagt er mit Nachdruck. Ich seufze. Ich habe einfach kein Schmusekind produziert, zu schade! Resigniert krame ich nach dem iPad und starte das Entertainmentprogramm auf Youtube. Falls sich an dieser Stelle jemand darüber beschweren möchte, dass ich einem Dreijährigen am frühen Morgen ein 10-minütiges Fernsehvergnügen gönne, solle er sich doch bitte an Flo´s Esstherapeuten wenden. Denn ohne "Biard" geht tatsächlich nichts, vor allem kein Frühstück! Wie jeden Morgen trällert die herzallerliebste kleine Sissi nun ihr Lied, während sie engelsgleich durch einen Pferdestall schreitet: "Ein kleines Pony, ein kleines Pony, ein kleines Pony wünsch ich mir. Mein kleines Pony, mein kleines Pony, ach komm doch her zu mir!" Auch heute wird mich Sissi verfolgen. Ich werde mich ertappen, wie ich "Mein kleines Pony" vor mich hinsumme und die sinnreichen Textzeilen immer wieder vor mich hinbete als wären sie die Weltformel. Ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, gebärdet Flo mit seiner Linken kurz das Zeichen für "Haben" und lässt ein weiteres "MI!" ertönen. Mutter reicht die Milch und Sohn saugt gierig. Kurzer ungläubiger Blick, dann heftiges Prusten und Keuchen. Die Milch fliegt mir in feinen Tröpfchen um die Ohren. Wie konnte ich es wagen? Die Milch ist nicht perfekt temperiert, sondern einen Ticken zu lauwarm. Sie müsste ganz leicht ins Kältere gehen, doch hier zeigt die Tendenz eindeutig zum Wärmeren! Das Gesinde macht heute aber auch nichts als Ärger. Der Schlussakkord von Sissi´s Ponylied verhallt. "Maaal!" sagt Flo, was übersetzt soviel wie "Nochmal von vorne!" bedeutet. Wie jeden Tag rolle ich den Stein den Berg hinauf und frage hoffnungsvoll: "Schau mal Flo, die Sissi singt auch ein Lied über einen Hund. Wollen wir uns nicht das vielleicht mal anhören?" Die Antwort ist ebenso eindeutig wie niederschmetternd: "BIARD!" Als das Ponylied zum 5. Mal verhallt, sind auch die 150 ml Vollmilch endlich geschafft. Flo schnellt in die Senkrechte und nutzt den Schwung, um gleichzeitig die Milchflasche aus dem Bett zu schleudern. Da sein Weitwurf heute missglückt, landet sie lediglich auf der Matratze zu meinen Füßen und die restlichen 50 ml Vollmilch sickern zwischen meinen Zehen in die Matratze. Der Geruch von gestöckelter Milch ist das, was mir in meinem Schlafzimmer zum vollendeten Glück noch gefehlt hat! Flo hat sich derweil an den Bettrand gewälzt und sieht in seinem verdrillten Schlafsack aus wie eine Made kurz vor der Verpuppung. Wütend rupft er am Vorderteil des Schlafsackes und biegt ihn mit Gewalt auseinander. Der Reißverschluss knirscht verdächtig. Während ich versuche, die Lage zu deeskalieren, indem ich den Reißverschluss selbst öffne, verhindert Flo meine Avancen, indem er sich wie ein wildgewordener Dönerspieß in die Gegenrichtung dreht. Bis ich die Reißverschluss-Lasche endlich zu fassen kriege, bin ich schweißgebadet. Flo kichert, er findet es tatsächlich witzig, mit mir seine Kräfte zu messen. Blitzschnell ist er aus dem hinderlichen Schlafsack geschlüpft und rennt zur Tür hinaus. Ich nehme schleunigst die Verfolgung auf, denn wir haben das Schutzgitter im Treppenhaus wieder abmontiert, nachdem Flo einen Trick gefunden hat, die Kindersicherung auszuhebeln. "Patsch", mit Schwung fliegt die Schlafzimmertür, durch die ich in diesem Moment gerade hinterhereilen wollte, zu und trifft meine große Zehe. Flo mag keine offenen Türen! Wenn es sein Weltgefüge stört, dass eine Tür geöffnet ist, dann macht er sie zu, auch wenn gerade jemand hindurch gehen möchte. Ich hüpfe im Dreieck und halte mir den Fuß. Das tut jetzt aber wirklich richtig weh. Mein Sohn betrachtet meine Performance mit schräg gelegtem Kopf, klatscht in die Hände und packt die dreckigste Lache aus, die er auf Lager hat. Wo war mein liebes, empathisches Kind geblieben, dass jedes Mal sofort mitheult, wenn ein Kind weint? Mein Kind, das pustet, streichelt, tröstet, wenn sich jemand verletzt hat? Habe ich schon erwähnt, dass Mama die Ausnahme von der Regel ist? Bei mir wird Flo desöfteren von Dr. Jekyll zu Mr. Hyde!

Zumindest hat Flo kurz in der Bewegung inne gehalten, was mir die Gelegenheit gibt, die Verfolgung aufzunehmen und ihn an seinem Pyjama zu packen, bevor er sich in den Treppenhaus-Abgrund stürzt. Parolen wie "Langsam!", "Vorsicht, Treppe!" oder "Halte dich am Geländer!" bringen gar nichts. Außer dass er sich dann im falschesten Moment zu mir umdrehen würde, während er aber gleichzeitig weiter vorwärts läuft! Es würde nur dazu führen, dass er ungebremst gegen unsere Glastür prallt (da spreche ich leider aus Erfahrung!) oder, was hoffentlich nie passiert, völlig blindlings in den Abgrund rauscht! "Manni!" pöbelt Flo und versucht meine Hand aus seinem Pyjama zu lösen. Er schmeißt sich auf den Boden und robbt vorwärts zum Treppenabsatz. Er wirft mir einen aufmüpfigen Blick zu und deutet an, sich auf dem Bauch rutschend ins Erdgeschoß stürzen zu wollen. Ich zerre ihn auf die Beine, doch er mimt den Gummimann und knickt einfach in sich zusammen wie ein Haufen Wackelpudding. Ich starte einen zweiten Versuch, jetzt drückt er sich steif nach hinten ins Hohlkreuz durch. Ich gebe auf und lege ihn bäuchlings auf dem Fußboden ab. Ehe ich es mich versehe, hat er sich aufgerappelt und die Entscheidung getroffen, wie er die Treppe heute zu nehmen gedenkt. "Popo!" sagt er und rutscht auf seinem Windelhintern gen Erdgeschoß.

Mein Blick streift die Küchenuhr: 7 Uhr 30. Hat der Tag tatsächlich erst vor einer halben Stunde begonnen? Während ich Flo´s Himbeer-Joghurt (es darf immer nur Himbeer und immer nur der "Alpenzwerg" sein) aus dem Kühlschrank angle, hat er sich schon einen seiner Kinderstühle gekrallt und schiebt ihn in Richtung Küchenblock. "Dalz! Dang!" sagt er. Aha, er hofft also mit seiner Aktion an die geliebten Salzstangen zu kommen. Mittlerweile balanciert er auf der Rückenlehne des Kinderstühlchens, damit er über den Rand der Arbeitsplatte spähen und das Angebot checken kann. Dann stellt er sich auch noch auf die Zehenspitzen, um die Mitte der Ablage zu erreichen. Ich grinse in mich hinein. Er wird nichts finden - weder etwas zum Naschen noch unser scharfes Damaszenermesser, das er sich beim letzten Versuch gekrallt hat. Heute bin ich ihm voraus und habe sehr gründlich vorgesorgt! Etwas enttäuscht tritt er den Rückzug an und kickt wütend ein Playmobil-Männchen beiseite. Ich setze mich an den Esstisch und schöpfe mir meine Jumbotasse ein zweites Mal mit Kaffee voll. Ab morgen werde ich den Harmonie-Tee versuchen, der seit 2 Jahren im Küchenschrank vergammelt - versprochen. Ich atme tief den wunderbaren Duft meines Kaffees ein und Glückshormone durchströmen mich. Was für ein Moment des inneren Friedens! Als ich meinen Blick von meiner Tasse hebe, sehe ich meinen Sohn und erstarre: Er steht splitterfasernackt in unserer Küche und hält sein Töpfchen in den Armen. "Bo, Do!" sagt er stolz, was übersetzt bedeutet, dass Flo auf dem Klo war. "Prima!" lobe ich, während sich Schweißperlen auf meiner Stirn sammeln. Jetzt bloß keine falsche Bewegung machen, die ihm signalisieren könnte, ich möchte Fangen spielen. Annähern, Überrumpeln, Beute sicher stellen!

"Das hast du toll gemacht!" sage ich und meine es auch so. Er hat eine beachtliche Menge - ausnahmsweise einmal IN sein Töpfchen gepinkelt. Ich werde das später entsorgen, wenn er in der Krippe ist. Jetzt steht es auch oben auf dem Küchenbüffet ganz gut. Dort, wo Flo nicht hinkommt. Die Zeit drängt. Das Joghurt steht noch unberührt auf dem Tisch, dann Wickeln, Zähne putzen, Anziehen und wir sind mit allem gut im Zeitplan.

Ich locke Flo an den Esstisch und öffne das Joghurt. "Neiiin, Papa!" sagt er bestimmt. "Papa ist jetzt aber nicht da!" entgegne ich genauso bestimmt. Liebevoll nähere ich mich mit einem Löffel Himbeerjoghurt seinem Mund. Blitzschnell packt er den Plastiklöffel, biegt ihn zum Katapult herunter und schleudert mir den Joghurt auf mein nicht mehr ganz so weißes Shirt. Ich bin kurz davor, die Nerven zu verlieren. Dann gibt es halt kein Frühstück. Ich hole Zahnbürste und Zahnpasta - das untrügliche Zeichen für Flo, sich auf die Flucht zu begeben. Wir hetzen durch die Wohnung, bis ich ihn endlich zu fassen bekomme. Ich halte ihn im Klammergriff und beginne "Drunt in der grünen Au steht a Birnbaum schee blau!" zu singen. Allmächt, und das mir als Fränkin im oberbayerischen Exil! Dieses Lied dauert exakt 2 Minuten und ist die einzige reelle Chance, Flo zu bewegen, den Mund zu öffnen und sich die Zähne putzen zu lassen. Mit meiner freien Hand angle ich schon wohlweißlich nach den Feuchttüchern. Ich nutze jede sich mir bietende Überrumpelungstaktik, um ihm noch schnell in einer Katzenwäsche das Gesicht von Rotz, Milch und Joghurtresten zu befreien. Das ist zu viel für ihn. Dr. Kimball befindet sich abermals auf der Flucht. Ich nehme die Verfolgung mit Windel, Body, Strumpfhose, Jeans und Pulli bewaffnet auf und stelle ihn im Treppenhaus. Mein flehentliches "Hilf mir beim Anziehen!" wird selbstredend ignoriert. Irgendwann ist es geschafft und während ich derangiert auf den Treppenabsatz sinke, ist Flo wieder in Richtung Küche unterwegs. Jetzt noch Brotzeit packen, Mütze, Schuhe, Jacke anziehen und wir können los. Ich sehe Licht am Ende des Tunnels! Als ich um die Essecke biege, weiß ich: Das Licht war ein entgegenkommender D-Zug, der mich soeben mit voller Kraft überrollt. Flo hat sein Kinderstühlchen gewinnbringend eingesetzt, um die höheren Lagen des Küchenbüffetts zu checken. Und siehe da, was man dort finden kann?!

Seine Zunge hängt vor lauter Begeisterung bis zum Bauchnabel. Ein untrügliches Zeichen, dass der Irrsinn bald einen ungeahnten Höhepunkt finden wird! "Ein, Bei, Dei!" zählt er mit seiner freien Hand an. Ein Jauchzen der Begeisterung ertönt. Mir gefriert das Blut in den Adern. Flo sturt wie der betrunkene Butler in "Dinner for One" auf mich zu. Ein Arm nach hinten gestreckt, der Oberkörper nach vorn gebeugt, die Zunge wippt im Takt dazu. In der anderen Hand schwenkt er sein Töpfchen. Ich hätte den Inhalt wohl doch besser gleich entsorgen sollen! Mittlerweile hat er die Arme hoch gerissen und schwenkt den Topf wild hin und her. Sein Inhalt schwappt nach allen Seiten und wässert unser Küchenparkett. Ich schnelle nach vorne und versuche, Flo´s Hand nebst Topf zu greifen, doch er hat gute Reflexe. Er reißt den Arm nach oben und dabei ergießt sich der restliche Inhalt des Topfes über seinen Kopf! Jetzt ist mir wirklich nach Heulen zumute. Alles von vorne: Umziehen und dann auch noch Haare föhnen - für Flo die meistgehasste Tätigkeit der Welt! Flo ahnt, was ich vorhabe und will lossprinten. Doch er vereitelt seinen eigenen Fluchtplan, indem er in seiner hausgemachten Pfütze ins Schleudern gerät und schließlich wie ein Wildschwein in der Suhle bäuchlings darin landet. Das Parkett ist glatt wie Schmierseife und mein Sohn versucht völlig verdattert, sich aus seiner misslichen Lage zu befreien.

Ich weiß nicht, was es ist: Vielleicht beginnender Irrsinn meinerseits? Als ich so auf dem Küchenfußboden kauere und dieses bizarre Schauspiel beobachte, überkommt mich ein Lachanfall. Lachend transportiere ich das triefende Bündel Mensch aus seiner Pfütze. Lachend ziehe ich ihn aus und wieder neu an. Lachend rubbele ich ihm die Haare trocken. Lachend packe ich seine Brotzeit ein, helfe ihm in die Stiefel, Jacke, Mütze. Ich lache, weil er sich weigert, sich in den Autositz schnallen zu lassen und lache, weil er sich weigert, beim Kindergarten aus selbigem wieder auszusteigen. Ich lache sogar noch, als mir dieser störrische Maulesel trotzig die Krippentür vor der Nase zuschlägt, ohne sich von mir verabschiedet zu haben.

Mein Blick fällt auf die Uhr: Es ist 8! Hat der Tag tatsächlich erst vor einer Stunde begonnen?